ADHS und Hochsensibilität – ähnlich, aber nicht dasselbe
Vermehrt stoße ich in meiner Praxis auf Menschen, die entweder ADHS-ähnliche Symptome zeigen oder sich als hochsensibel erleben.
Und oftmals fällt es schwer, genau zu erkennen, welche dieser beiden Besonderheiten den Menschen prägt.
Gleichzeitig stellt sich die Frage: Ist es überhaupt wichtig, den Unterschied zu kennen?
In den allermeisten Fällen: Ja.
Denn obwohl ADHS und Hochsensibilität sich in einigen Symptomen ähneln, sind sie im Kern grundsätzlich verschieden – und sie brauchen unterschiedliche Formen der Unterstützung, sei es in der Ernährung, im Alltag, in der Gesprächstherapie oder in der Massagearbeit (z. B. über bestimmte Akupressurpunkte).
ADHS – ein Gehirn im Suchmodus
ADHS ist eine neurologische Regulationsstörung, bei der das Gehirn Reize nicht richtig filtert.
Zu viele Eindrücke treffen gleichzeitig ein, Aufmerksamkeit springt, Gedanken rasen, innere Unruhe entsteht.
Neurobiologische Hintergründe
Die Ursache liegt meist in einem Ungleichgewicht der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin.
Sie steuern Fokus, Motivation und Impulskontrolle.
Wenn sie nicht ausreichend oder nicht regelmäßig ausgeschüttet werden, entsteht ein ständiger innerer „Suchmodus“.
Wie das Nervensystem beteiligt ist
Der Sympathikus (Aktivitätsnerv) ist häufig überaktiv – das System steht unter Strom.
Der Parasympathikus (Ruhe- und Regenerationsnerv) kommt zu selten in die Führung – Ruhe fällt schwer.
Die Amygdala (emotionales Alarmzentrum) reagiert stärker und schneller – was zu impulsiven Emotionen führt.
Die Zirbeldrüse kann durch Schlafstörungen oder ständige Überreizung in ihrer Melatoninproduktion beeinträchtigt sein – was den Tag-Nacht-Rhythmus weiter stört.
Typische ADHS-Merkmale
Sprunghaftigkeit und Gedankenkreisen
emotionale Schwankungen
Vergesslichkeit und Impulsivität
ständige Reizsuche oder Überforderung
Erschöpfung nach Phasen intensiver Aktivität
Schlafprobleme durch innere Übererregung
Menschen mit ADHS brauchen oft mehr Stimulation, Bewegung und Abwechslung, um sich lebendig und wach zu fühlen.
Wird der Alltag zu ruhig, entsteht innere Unruhe.
Hochsensibilität – ein Nervensystem, das tiefer wahrnimmt
Hochsensibilität (HSP – Highly Sensitive Person) ist keine Störung, sondern eine angeborene Persönlichkeitsausprägung.
Hier reagiert das Nervensystem stärker und intensiver auf Reize.
Geräusche, Licht, Gerüche, Emotionen oder Stimmungen anderer Menschen werden nicht nur bemerkt – sie werden tief verarbeitet. Oft so tief, dass der Unterschied zwischen eigenen und fremden Gefühlen kaum spürbar ist.
Neurologische Besonderheiten
Die Amygdala reagiert empfindlicher – emotionale Reize werden stärker bewertet.
Der Parasympathikus versucht häufig, Überreizung abzufangen, ist aber schnell erschöpft.
Der Sympathikus wird zwar nicht so impulsiv aktiviert wie bei ADHS, aber das System läuft durch ständige Feinwahrnehmung auf „hoher Sensibilität“.
Die Zirbeldrüse ist bei HSP oft stark aktiv – was die intuitive Wahrnehmung, das Tagträumen und das Empfinden vertieft.
Typische HSP-Merkmale
hohe Empathie und starkes Einfühlungsvermögen
feine Wahrnehmung von Stimmung, Atmosphäre und Körpersprache
Schwierigkeiten, Emotionen anderer von den eigenen zu unterscheiden
schnelle Überforderung durch Lärm, Hektik oder Konflikte
starkes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe
intensive emotionale Reaktionen
Während das ADHS-Gehirn zu wenig filtert, filtert das HSP-Gehirn zu viel – und verarbeitet alles bis ins Detail.
Der entscheidende Unterschied
Menschen mit ADHS suchen Reize, um wach zu bleiben.
Hochsensible Menschen meiden Reize, um nicht zu überfluten.
Beide erleben die Welt intensiver als andere – aber aus entgegengesetzten Perspektiven.
Das erklärt, warum Hochsensible eher Ruhe, Natur und Struktur brauchen, während ADHS-Betroffene Bewegung, Abwechslung und äußere Stimulation benötigen.
Das Nervensystem verstehen – der Schlüssel zur Heilung
ADHS und Hochsensibilität sind keine Charakterfehler.
Sie sind Ausdruck eines Nervensystems, das anders reagiert.
Sympathikus & Parasympathikus
Beide Zustände entstehen, wenn die Balance zwischen Aktivität und Ruhe über längere Zeit gestört ist.
Woher kommt das?
Oft aus der Kindheit:
Stress in der Familie
ständig wechselnde oder unsichere Situationen
emotionale Vernachlässigung
Überverantwortung
traumatische Erlebnisse
hoher Leistungsdruck
unvorhersehbare Bezugspersonen
zu wenig sichere Bindung
Das Nervensystem musste schon früh Strategien entwickeln, um „überleben“ zu können – entweder hyperaktiv und reizsuchend (ADHS) oder tief wahrnehmend und schützend (HSP).
Auch Gene, Schwangerschaft und Geburt haben große Auswirkungen auf die Sensibilität und die Stressverarbeitung eines Menschen.
Was kannst du tun?
Sowohl ADHS als auch Hochsensibilität profitieren von ganzheitlichen, sanften Methoden, die das Nervensystem regulieren:
Massage
zur Beruhigung des Sympathikus, Lösung von Anspannung und Förderung des KörpergefühlsAkupressur
zur Aktivierung bestimmter Punkte für Ruhe, Erdung oder Fokusbewusste Atmung
um den Parasympathikus zu aktivierenAchtsamkeit, Meditation, Yoga Nidra
zur ReizentlastungGesprächstherapie oder Coaching
um Muster, Überreizung und Kindheitsthemen zu verstehenErnährung
zur Stabilisierung von Neurotransmittern und Stresshormonenein regulierendes Umfeld
ohne ständige Reizflut, emotionalen Stress oder toxische Einflüsse
Denn oft steckt hinter der Unruhe kein „Fehler im Gehirn“, sondern ein überlastetes Nervensystem, das uns sagt:
„Ich brauche Ruhe, Zeit und Verständnis.“
Zusammenfassung
ADHS braucht Regulation – Struktur, Bewegung und gezielte Aktivierung.
Hochsensibilität braucht Erdung – Schutz, Rückzug und emotionale Entlastung.
Beides ist keine Schwäche.
Beides ist Ausdruck eines fein eingestellten, reaktionsschnellen Nervensystems.
Und wer lernt, mit dieser Sensitivität bewusst umzugehen, verwandelt Überforderung in Stärke – durch Verständnis, innere Balance und achtsame Begleitung.