ADHS – was es wirklich ist und warum die Diagnose oft zu schnell gestellt wird
In den letzten Jahren scheint es, als hätte jeder Zweite ADHS. Kinder, Jugendliche, Erwachsene – ganze Generationen werden plötzlich mit der Diagnose konfrontiert.
Doch was steckt tatsächlich dahinter? Wird ADHS wirklich häufiger, oder verstehen wir einfach nur die Mechanismen von Aufmerksamkeit, Stress und Reizüberflutung besser?
Als Coachin und Therapeutin erlebe ich täglich Menschen, die sagen: „Ich kann mich nicht konzentrieren, ich bin ständig abgelenkt – vielleicht habe ich ADHS?“
Doch nicht immer ist das, was sich wie ADHS anfühlt, auch tatsächlich eine neurologische Störung.
Was ADHS wirklich ist
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung, bei der bestimmte Gehirnregionen – insbesondere im präfrontalen Cortex – anders arbeiten.
Dort werden Prozesse gesteuert wie:
Aufmerksamkeit und Fokus
Impulskontrolle
Arbeitsgedächtnis
Motivation
emotionale Regulation
Betroffene haben Schwierigkeiten, Reize zu filtern. Das Gehirn ist ständig überaktiv – als würden zu viele Radiosender gleichzeitig laufen.
Biologisch gesehen:
Die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin spielen eine zentrale Rolle.
Bei ADHS werden sie in bestimmten Hirnregionen nicht in ausreichender Menge oder zu unregelmäßig ausgeschüttet.
Das führt zu einem Mangel an innerer Belohnung, weshalb Betroffene oft nach Reizen, Abwechslung oder schnellen Erfolgserlebnissen suchen.
Typische Symptome
ADHS zeigt sich in sehr unterschiedlichen Formen:
Unaufmerksamkeit: Schwierigkeiten, bei einer Sache zu bleiben, Vergesslichkeit, chaotisches Denken
Hyperaktivität: ständige innere Unruhe, Bewegungsdrang, Rededrang
Impulsivität: schnelles Handeln ohne Nachdenken, emotionale Ausbrüche
Emotionale Überflutung: intensive Gefühle, schnelle Stimmungsschwankungen
Bei Erwachsenen ist Hyperaktivität oft weniger körperlich, dafür innerlich stärker spürbar – als ständiger Gedankenstrom, Reizüberflutung oder Anspannung.
Wird ADHS zu schnell diagnostiziert?
Ja – häufig.
Denn viele Symptome, die heute als „ADHS-typisch“ gelten, können auch Folge anderer Zustände sein:
Chronischer Stress – dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel beeinträchtigt Konzentration und Gedächtnis
Schlafmangel – das Gehirn ist überreizt, unruhig, emotional instabil
Traumatische Erfahrungen – führen zu Hypervigilanz, also ständiger innerer Alarmbereitschaft
Depression oder Angststörung – können Aufmerksamkeitsprobleme imitieren
Überforderung und Reizüberflutung durch digitale Medien
Fehlende Struktur oder Sinn im Alltag – das Gehirn verliert Orientierung
Gerade in einer Zeit, in der wir permanent überstimuliert sind, ist das Gehirn vieler Menschen schlicht erschöpft – nicht gestört.
Wenn man denkt, man habe ADHS – aber etwas anderes dahinter steckt
Viele Menschen, die glauben, ADHS zu haben, leiden in Wahrheit an Regulationsstörungen:
Das Nervensystem ist aus dem Gleichgewicht, der Körper befindet sich im Dauerstress-Modus (Sympathikus-Aktivität).
Typische Ursachen:
Unverarbeitete emotionale Themen
Dauerhafte Anspannung oder Leistungsdruck
Mangel an Schlaf, Bewegung, Struktur
Zu viele gleichzeitige Aufgaben
In solchen Fällen ist keine medikamentöse Behandlung notwendig, sondern Regeneration und Neuorganisation des Nervensystems:
Achtsamkeit, Massage, Atemarbeit, Bewegung, gesunde Ernährung, Struktur – und vor allem: Pausen…”Langeweile” Siehe hierzu den Artikel “Die heilende Kraft der Langeweile”
Was bei echter ADHS hilft
Wenn ADHS tatsächlich diagnostiziert wird (durch Neurolog:innen, Psychiater:innen oder spezialisierte Psychotherapeut:innen), ist eine ganzheitliche Behandlung entscheidend.
Mögliche Ansätze:
Medikamentöse Therapie: die Dopamin- und Noradrenalinspiegel regulieren.
→ sinnvoll, wenn klarer neurobiologischer Befund besteht.
Verhaltenstherapie und Coaching: Aufbau von Struktur, Zeitmanagement, Emotionsregulation.
Körpertherapie und Achtsamkeit: Berührung, Atmung und Bewegung helfen, das Nervensystem zu stabilisieren.
Ernährung: Omega-3-Fettsäuren, ausreichend Eiweiß, wenig Zucker, regelmäßige Mahlzeiten stabilisieren Neurotransmitter.
Schlafhygiene: Regelmäßige Schlafzeiten und Reizarmut vor dem Zubettgehen sind essenziell.
Stressreduktion: Meditation, Yoga, Massage, Naturkontakt – alles, was den Parasympathikus aktiviert. Auch “Langeweile”
Die feine Grenze zwischen Überforderung und ADHS
Unsere Zeit erzeugt Symptome, die sich wie ADHS anfühlen: ständige Erreichbarkeit, Multitasking, Reizüberflutung, Schlafmangel, emotionale Überlastung.
Das bedeutet nicht, dass alle „ADHS haben“, sondern dass viele nicht mehr zur Ruhe kommen.
ADHS ist real. Aber nicht jede Unruhe, Zerstreutheit oder Reizüberforderung ist eine Krankheit.
Manchmal ist sie ein Hilferuf des Gehirns, langsamer zu werden.
Zusammenfassung
ADHS ist kein Modewort – aber es wird zu oft als einfache Erklärung für komplexe Lebenszustände benutzt.
Echte ADHS braucht Verständnis und fachliche Begleitung.
Doch viele Menschen, die glauben, sie seien betroffen, brauchen vor allem Ruhe, Struktur und Selbst-Mitgefühl – nicht Medikamente.
Unser Gehirn ist kein defektes Organ. Es ist ein sensibles, reaktives System, das auf Umwelt, Emotion und Überforderung reagiert.
Und manchmal ist das, was wie eine Störung aussieht, einfach der Versuch des Körpers, uns zu sagen:
„Ich kann so nicht weitermachen.”